Am 22.06. 2016 fand in der Schule Vizelinstraße eine dreistündige Veranstaltung zum Thema „Schülerorientierung versus Lehrplanorientierung“ statt. Dieses Thema war aus Rückmeldungen der Kolleginnen und Kollegen in einer früheren gemeinsamen Veranstaltung aller vier Schulversuchsschulen erwachsen. Es spiegelt wider, dass für viele Kolleginnen und Kollegen die Orientierung an den Kindern und Jugendlichen oft nur schwer mit dem Lehrplan in Einklang zu bringen ist.
Um den Flow dieses Themas zu erspüren, sind auch die einleitenden Gedanken von der Steuergruppe Schullabor sehr bereichernd, die im Folgenden aufgeführt werden:
„Wir möchten zur Einstimmung ein kurzes Statement bezgl. des „versus“ im Titel der Veranstaltung abgeben. Es weist daraufhin, dass eine Orientierung des Unterrichts für eine Klasse am vorgesehenen Lehrplan (der an sich ja nicht verkehrt ist) nicht oder jeweils nur für einen Teil der Kinder funktionieren kann. Stichworte sind hierzu u.a.
- die Unterschiede im Lern- und Entwicklungsstand von teilweise mehreren Jahren auch in einer Jahrgangs- oder Vorschulklasse
- die Notwendigkeit, an Vorwissen und Interessen jeder Schülerin und jedes Schülers anzuknüpfen.
- Hiermit zusammenhängend die subjektive Einsicht eines/einer Jeden, dass die Aneignung gerade dieses Lerngegenstandes für ihn persönlich Sinn macht. Nur so kann ein nachhaltiger Zuwachs an Kompetenzen bei jedem Einzelnen ermöglicht werden.
Im Prinzip steht vieles so auch in den theoretischen Ausführungen der Bildungspläne. Durchkreuzt wird es dann aber wieder z.B. durch die Vorgaben für schriftliche Lernerfolgskontrollen. In diesen heißt es: „Alle schriftlichen Lernerfolgskontrollen beziehen sich auf die in den jeweiligen Rahmenplänen genannten Anforderungen …. Sie überprüfen den individuellen Lernzuwachs und den Lernstand, der entsprechend den Rahmenplanvorgaben zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht sein soll.“
Das bedeutet in der Praxis dann beispielsweise: Die Lehrkraft erarbeitet mit allen Kindern gleichzeitig die Multiplikation – wenn auch sehr differenziert und verschiedene Zugänge und Aneignungswege ermöglichend. Sie führt dazu auch Leistungskontrollen durch, obwohl vielleicht das eine oder andere Kind den Aufbau des Zahlenraums bis 20 noch nicht wirklich begriffen hat und Addieren und Subtrahieren nur als Vor- oder Rückwärtszählen in einer Zahlenreihe bewältigt. Statt der Beschäftigung mit der Multiplikation würden vielmehr Zeit und Angebote benötigt, Beziehungen zwischen Zahlen auf ganz grundlegender Ebene zu erfassen, weil das Kind eben in diesem Bereich noch nicht den Entwicklungsstand vieler Gleichaltriger hat.
Eine Erkenntnis ist uns besonders wichtig: Insbesondere in einer inklusiven Schule ist es der Normalfall, dass eine Anzahl von Kindern die in den Bildungsplänen vorgesehenen Anforderungen nicht in den dort vorgesehenen Zeiträumen bewältigen werden. Diese Kinder dürfen nicht das Gefühl vermittelt bekommen, außerhalb der „Norm“ der „Regelanforderung“ zu stehen. Stattdessen muss es Schule in ihrer ganzen Konzeption klar sein, dass es eben gerade der Regel- und Normalfall ist, dass enorme Lern- und Entwicklungsunterschiede innerhalb einer Lerngruppe bestehen, so dass die Orientierung an den Regelanforderungen der Bildungspläne immer nur für einen Teil der Kinder passend sein kann.
Es reicht dann eben nicht, so zu differenzieren, dass alle irgendwie und oft mehr schlecht als recht sich an einem Bildungsplanziel abarbeiten. Stattdessen muss man auch den Mut haben zu sagen, wie Remo Largo es sinngemäß mal geschrieben hat: Dies Kind ist nicht einfach schwach in irgendwelchen Kompetenzen, ich lasse es nur schwach aussehen, wenn ich es zum falschen Zeitpunkt mit den falschen Maßstäben beurteile.
Soweit unsere Ideen zu unserem Veranstaltungstitel. Wir möchten euch alle anregen, Folgendes zu überlegen: Wo und inwieweit findet ihr diese Sichtweise zutreffend? Wo und inwieweit könnt ihr Mut entwickeln, jedem Kind wirklich da zu begegnen, wo es steht, und jedes Kind erfolgreich sein zu lassen?
Oder wie es die Haspa–Personalchefin in ihrer Laudatio über einen diesjährigen Bildungspreisträger sagt: „Er weiß: Nicht der Vergleich mit anderen fördert die Leistung und gibt Selbstbewusstsein, sondern das eigene Wachsen.“
Als Referentin war die ehemalige Schulleiterin der preisgekrönten Max-Brauer-Schule, Barbara Riekmann, gewonnen worden. Sie zeigte an vielen Stellen auf, dass Lehrpläne und Schülerorientierung keinen Widerspruch darstellen – und welche Möglichkeiten an vielen Stellen bestehen, um Freiräume für eine stärkere Schülerorientierung zu nutzen. Angeregt von diesem spannenden Input beschäftigten sich die Kolleginnen und Kollegen mit diesem Thema; zuerst in gemischten Gruppen, in der jeweils jede Schule vertreten war und in denen es einen Austausch über die Freiräume für Schülerorientierung an den vier Schulen gab. In einer zweiten Runde waren es dann Gruppen, die sich immer aus Pädagoginnen und Pädagogen einer Schule zusammensetzten und die die Erkenntnisse der ersten schulübergreifenden Runde in diese zweite Runde hineintrugen. Diese Gruppen arbeiteten heraus, an welcher Stelle Freiräume des Lehrplans und der Schülerorientierung schon gut genutzt werden und wo es noch Handlungsbedarf an ihrer Schule gibt.